Die Geliebte des französischen Leutnants

"Die Geschichte, die ich erzähle, entstammt meiner Phantasie. Die Gestalten, die ich darstelle, hat es außerhalb meiner Überlegungen nie gegeben. Habe ich bisher vorgegeben, die Erwägungen und innersten Gedanken meiner Gestalten zu kennen – ebenso wie ich einiges von ihrem Wortschatz und ihrem Sprachstil übernommen habe –, dann deshalb, weil ich dem Herkommen folge, das zur Zeit meiner Erzählung allgemein galt: dass der Romanschreiber Gott am nächsten steht. Er mag nicht alles wissen, aber er tut so. Ich lebe im Zeitalter Alain Robbe-Grillets und Roland Barthes‘; wenn dies ein Roman ist, dann kann es keiner im modernen Sinn sein.“  So lauten die vielleicht berühmtesten Sätze von John Fowles aus dem nicht minder berühmten dreizehnten Kapitel, in dem die Erzählillusion gebrochen wird, scheinbar der Autor selbst spricht und das zuvor Erzählte kommentiert. Gerade dieses Kapitel ist maßgeblich dafür, dass Fowles‘ Roman als zentraler und früher Text der englischen Postmoderne gesehen wird. Doch hat das Buch nicht nur in der akademischen Landschaft einen kanonischen Status und wird vielfach in literaturwissenschaftlichen Einführungstexten als Beispiel für experimentelles und selbstreflexives Erzählen herangezogen, sondern war darüber hinaus ein Bestseller.


In dem Roman stehen sich zwei Erzählebenen gegenüber, das 20. und das 19. Jahrhundert, wobei das 20. Jahrhundert allein durch die Stimme des Erzählers repräsentiert wird. Zunächst scheint der Text den Konventionen des realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts zu folgen, indem ein auktorialer Erzähler beispielsweise ein Panorama des Hauptortes der Handlung – Lyme Regis – eröffnet und in den folgenden Kapiteln die Protagonisten samt Biographien, Ansichten und Gefühlen einführt. Es entspinnt sich auf der Handlungsebene die Geschichte Charles Smithsons, eines etwa 30jährigen Angehörigen des niederen Adels, der der vagen Leere und Langeweile seines bisherigen Lebens entfliehen und sich gleichzeitig entsprechend den Konventionen seiner Zeit als verantwortungsbewusstes Gesellschaftsmitglied erweisen will. Er verlobt sich mit der reichen Erbin Ernestina Freeman, gerät dann aber in den Bann der unkonventionellen Sarah Woodruff, die in dem Ruf steht, die Geliebte des französischen Leutnants des Buchtitels gewesen zu sein und dadurch in Lyme Regis als gefallene Frau gilt.


Dabei treten mehr und mehr die Spannungen zwischen den Ansichten und Wertungen eines Erzählers, der aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts spricht, und denen, die typisch für einen Erzähler des 19. Jahrhunderts wären, hervor, die Kapitel dreizehn dann explizit thematisiert. Hier deutet sich ein weiterer wesentlicher Aspekt des Romans an: die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Rekonstruktion von Vergangenheit, ein Element historiographischer Metafiktion.

 

Der Roman setzt sich detailliert mit der viktorianischen Kultur, insbesondere ihren Wissenschafts-, Sexualitäts-, und Geschlechterbildern sowie ihren inneren Widersprüchen auseinander. Auch im weiteren Handlungsverlauf bricht Fowles‘ Text mit den Konventionen realistischen Erzählens, indem beispielsweise der „Autor“ als Figur auf der Handlungsebene auftritt und der Roman in drei Varianten endet. Die erste Variante: Charles heiratet Ernestina; die zweite: er geht eine Beziehung mit Sarah ein; und als letzter, gewichtigster Schluss, der die „existentialistische Ethik“ des Romans (Werner Wolf ) widerspiegelt: Er muss sich der Welt allein stellen. (A.S.)